Der große Ausverkauf: Wie Deutschlands Hightech-Zukunft nach Siemens-Art verspielt wurde

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Während sich die Augen der Öffentlichkeit auf die dramatischen Restrukturierungen bei Siemens und in der Autoindustrie richteten, vollzog sich in einer anderen Schlüsselbranche ein stiller, aber ebenso zerstörerischer Kahlschlag: in der deutschen Halbleiter- und Solarindustrie. Was bei Siemens die Handy- und Halbleitersparte war, waren hier ganze Zukunftstechnologien, die dem Diktat der kurzfristigen Margen geopfert wurden. Es ist die Geschichte davon, wie eine industrielle Führungsposition systematisch abgebaut und an die internationale Konkurrenz verschenkt wurde – nach einem Spielbuch, das bei Siemens geschrieben wurde.

Die Blaupause: Das „Infineon“-Modell erobert den Hightech-Sektor

Das Muster war immer dasselbe, ob bei Siemens, bei VW oder in der Chemie:

  1. Ausgliedern (Ein profitables, aber kapitalintensives Geschäft in eine rechtlich eigenständige GmbH auslagern)
  2. Druck machen (Die neue Firma muss sich am Markt behaupten und wird mit internen Preisdruck und Margenvorgaben konfrontiert)
  3. Verkaufen oder Sterben lassen (Entweder findet sich ein Investor, oder das Geschäft wird so lange ausgeblutet, bis es unwiderruflich geschwächt ist)

Im Halbleiter- und Solarbereich lief diese Maschinerie mit verheerender Präzision.

Die Opfer: Eine Galerie der geopferten Champions

1. Infineon: Das Ur-Opfer

Die Ausgliederung der Siemens-Halbleitersparte zu Infineon (1999) war der Startschuss. Was als Befreiungsschlag gefeiert wurde, entpuppte sich als erster Schritt in die Abhängigkeit. Infineon musste von Anfang an gegen massiv subventionierte asiatische Giganten kämpfen. Die Folge: Standortsterben in Deutschland. Hochmoderne Fabriken in Dresden und München wurden geschlossen oder verkauft, tausende High-Tech-Jobs gingen verloren oder wanderten nach Malaysia und Osteuropa ab. Siemens hatte sich von der kapitalintensiven Last befreit – und eine ganze Technologie-Branche ihrer Heimat entrissen.

2. Die Solarindustrie: Der größte industrielle Kahlschlag seit der Wiedervereinigung

Deutschland war um das Jahr 2000 weltweiter Technologieführer in der Photovoltaik. Firmen wie Q-Cells, Solarworld und Solon standen für Innovation und Qualität „Made in Germany“. Doch dann griff das Siemens-Spielbuch:

  • Chinesische Konkurrenz: Chinesische Hersteller, massiv vom Staat subventioniert, überschwemmten den Weltmarkt mit billigen Modulen. Der Margenverfall war dramatisch.
  • Deutsche Politik: Statt die Schlüsselindustrie für die Zukunft strategisch zu schützen (wie es China tat), blieb die deutsche Politik dem neoliberalen Mantra treu: Der Markt wird es richten.
  • Das Ende: Es kam, wie es kommen musste. Eine nach der anderen der deutschen Solarfirmen ging pleite. Q-Cells, einst Weltmarktführer, wurde von einem südkoreanischen Konzern aufgekauft. Solarworld implodierte. 70.000 Arbeitsplätze wurden in wenigen Jahren vernichtet. Das gesamte technologische Know-how und die Produktionsanlagen wurden für einen Appel und ein Ei an chinesische Investoren verkauft. Deutschland hatte nicht nur eine Industrie, sondern seine gesamte technologische Souveränität in einem Zukunftssektor verspielt.

3. Wacker Chemie: Der letzte Mann steht unter Dauerbeschuss

Wacker ist das traurige Beispiel eines Überlebenskämpfers, der zeigt, wie der Druck das gesamte Geschäftsmodell verzerrt. Als einer der letzten großen Polysilizium-Hersteller in Deutschland stemmt sich Wacker gegen die chinesische Dumping-Politik.
Doch auch hier sind die Methoden dieselben: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, investiert Wacker Milliarden im Ausland (z.B. in den USA) und muss gleichzeitig im Heimatmarkt Personal abbauen, Werke drosseln und Arbeitsbedingungen verschlechtern. Die Auslagerung von Personal in schlechter bezahlte Dienstleistungstöchter, um flexibler zu sein, ist auch hier an der Tagesordnung – ein direktes Erbe der Siemens’schen Personalpolitik.

4. Siltronic & Co.: Der stille Ausverkauf der Zulieferer

Die Geschichte der Siltronic AG (ehemals Wacker-Tochter) ist symptomatisch. Der deutsche Wafer-Hersteller, fundamental für die Chip-Produktion, wurde 2021 beinahe an den taiwanesischen Konzern GlobalWafers verkauft. Nur eine Intervention des deutschen Wirtschaftsministers verhinderte den Deal im letzten Moment. Es war ein knappes Entkommen, das zeigt, wie anfällig die restlichen deutschen Hightech-Zulieferer für Übernahmen durch ausländische Konkurrenten sind.

Die treibenden Kräfte: Kurzfristiges Denken vs. langfristige Strategie

Wer trieb diese Entwicklung an? Die üblichen Verdächtigen:

  • Investmentbanken und Aktionäre: Sie feierten jede Kostensenkung und jede „Fokussierung auf die Kernkompetenz“ mit steigenden Kursen. Das langfristige Risiko für den Industriestandort war ihnen egal.
  • Unternehmensberater: Sie rieten zur Auslagerung, zum Verkauf, zur „Schlankheit“. Ihre Gebühren wurden mit dem kurzfristigen Börsenerfolg verdient, nicht mit dem langfristigen Wohl des Unternehmens.
  • Eine verfehlte Politik: Anstatt Schlüsselindustrien strategisch zu schützen und zu fördern, setzte man auf Marktradikalität und befeuerte so den Abstieg.

Fazit: Eine gewonnene Schlacht, ein verlorener Krieg

Die Aktionäre von Siemens, Infineon und Wacker haben kurzfristig von der Restrukturierung profitiert. Doch was für einzelne Unternehmen ein „Erfolg“ war, war für den deutschen Wirtschaftsstandort eine Katastrophe.

Deutschland hat im Zuge dieser nach Siemens-Art durchgeführten Restrukturierungen seine technologische Souveränität in zwei fundamentalen Zukunftsbranchen – Halbleiter und Solar – verspielt. Man hat die Wertschöpfung und zehntausende hochqualifizierte Jobs outsourced, während die Konkurrenz aus Asien die Technologie übernahm und sich zur dominierenden Kraft aufschwang.

Es ist die tragischste Ironie: Ausgerechnet die Industrie, die für die grüne Energiewende und die digitale Zukunft essentiell ist, wurde dem Moloch der kurzfristigen Margen opfert. Der große Ausverkauf nach Siemens-Art war ein Pyrrhussieg, dessen volle Konsequenzen wir heute, in Zeiten von Lieferkettenkrisen und geopolitischen Spannungen, schmerzhaft zu spüren bekommen.