Die Schattenseite des Erfolgs: Wie Siemens und die Deutsche Bank Unternehmen „töteten“

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Die Transformation von Siemens vom schwerfälligen Mischkonzern zum schlanken Tech-Aktienliebling ist eine Erfolgsgeschichte an der Börse. Doch dieser Erfolg hat tiefe Narben hinterlassen. Die Frage, wie viele Firmen Siemens und seine Partner „auf dem Gewissen“ haben, führt in die Abgründe der Shareholder-Value-Ära. Es ist eine Geschichte von ausgegliederten Krankenschwestern, geopferten Technologieperlen und einer symbiotischen Beziehung zur Deutschen Bank.

Das Spielbuch: Wie man einen Konzern „entkernt“

Die Strategie folgte einem wiederkehrenden Muster, oft begleitet von Beratern wie McKinsey und finanziert/beraten von Großbanken, mit der Deutschen Bank als einem der zentralen Akteure im Hintergrund:

  1. Identifizierung: Welche Sparte ist nicht kerngeschäftskritisch, hat hohe Kapitalbindung (Gebäude, Maschinen) oder hohe Personalkosten?
  2. Auslagerung (Carve-Out): Die Sparte wird rechtlich in eine eigenständige GmbH ausgegründet. Oft wird das Personal mit übertragen, allerdings häufig zu schlechteren Konditionen.
  3. Abhängigkeit schaffen: Die neue Firma erhält langfristige Lieferverträge von Siemens. Ihre gesamte Existenz hängt an diesen Aufträgen.
  4. Verkauf oder Ausbluten lassen: Dann gibt es zwei Wege:
    • Verkauf: Die GmbH wird an einen Investor (Private Equity, Mitbewerber) verkauft. Siemens kassiert, der Investor will Rendite.
    • Kostendruck: Die Preise für die Siemens-Aufträge werden immer weiter gedrückt. Die ausgegliederte Firma, ihrer Ressourcen beraubt, kann nicht investieren und wird unprofitabel.
  5. Das Ende: Die Firma geht pleite, wird zerschlagen oder an einen Billiginvestor verkauft. Siemens hat seine Kosten gesenkt, sein Kapital freigesetzt und ist die Verantwortung für die Mitarbeiter los.

Die Opfer: Eine unvollständige Liste des Scheiterns

Eine genaue Zahl wird es nie geben, aber die prominenten Fälle malen ein klares Bild:

1. Greenfield & Co.: Die Auslagerung der Krankenschwestern

Eines der übelsten Kapitel. Siemens gründete 1998 die Greenfield GmbH & Co. KG, um hunderte von betriebseigenen Krankenschwestern und Pflegekräften auszulagern. Ziel: Senkung der Lohnnebenkosten. Den Angestellten wurden Kündigungen angeboten, verbunden mit der „Chance“, sich bei Greenfield zu deutlich schlechteren Konditionen wieder anzustellen. Ein klassischer Fall von Prekarisierung durch Auslagerung. Greenfield existiert heute nicht mehr in dieser Form; die Arbeitsplätze wurden zerstört oder in andere Dienstleister überführt. Das Muster wiederholte sich bei Hunderten von Service- und Wartungstechnikern in ähnlichen Konstrukten.

2. Die FEAG: Das Lehrstück für ein gesteuertes Scheitern

Die Fertigungscenter für Elektrische Anlagen GmbH (FEAG) war ein Musterbeispiel für die Abhängigkeitsfalle. 1996 wurden bundesweit Fertigungsstätten ausgegliedert. Die FEAG lebte fast ausschließlich von Siemens-Aufträgen. 2006, als die Langzeitaufträge ausliefen, weigerte sich Siemens, neue zu vergeben. Die Folge: Insolvenz. Über 600 hochqualifizierte Mitarbeiter standen vor dem Nichts. Der Betriebsrat warf Siemens vor, die Firma systematisch „ausgeblutet“ und die Insolvenz bewusst in Kauf genommen zu haben, um sich der Verantwortung zu entledigen. Ein Musterexemplar für den finalen Schritt im Spielbuch.

3. Gigaset (ehemals Siemens Home AG): Der langsame Tod einer Legende

Die Telefonsparte war einst ein Aushängeschild. 2008 wurde sie ausgegliedert und verkauft. Ohne die finanzielle und technologische Schlagkraft des Siemens-Konzerns im Rücken konnte sie im harten Smartphone-Kampf nicht mithalten. Nach Jahren des Niedergangs meldete Gigaset 2023 Insolvenzan. Ein deutsches Kultprodukt wurde geopfert, weil es nicht mehr in die hochprofitablen Kernsparten passte.

4. BenQ Mobile: Der soziale Super-GAU

Der wohl brutalste Fall. 2005 verkaufte Siemens seine angeschlagene Handysparte für einen symbolischen Euro an den taiwanesischen Konzern BenQ – und warf noch 250 Millionen Euro drauf. BenQ versprach, Standorte in Deutschland zu erhalten. Doch schon ein Jahr später machte BenQ Mobile Deutschland pleite. Über 3.000 Mitarbeiter verlieren von heute auf morgen ihren Job. Die Hoffnung, mit einem starken Partner zu überleben, erwies sich als Illusion. Siemens hatte sich mit dem Deal von einer Problemsparte und hohen Sozialplankosten freigekauft – die Mitarbeiter zahlten den Preis.

5. Dresdner Bank / Deutsche Bank: Der Partner im Hintergrund

Hier kommt der zweite Teil der Frage ins Spiel: die Deutsche Bank. Sie war über Jahrzehnte die „Hausbank“ von Siemens, saß im Aufsichtsrat und war an nahezu jeder großen Transaktion beteiligt: Bei der Ausgründung von Infineon, beim Verkauf von Anlagen, bei Übernahmen. Sie beriet nicht nur, sie finanzierte auch Deals und verdiente kräftig mit.
Die Kritik: Die Deutsche Bank beriet stets im Sinne der kurzfristigen Kapitalmarkterwartungen und nicht im Sinne der langfristigen industriellen Substanz oder der Arbeitnehmer. Sie war die architektonische und finanzielle Hand, die die Zerschlagung erst ermöglichte. Die Interessen von Siemens (Aktienkurs steigern) und der Deutschen Bank (Gebühren verdienen) waren deckungsgleich – zum Nachteil der ausgegliederten Unternehmensteile.

Fazit: Es geht nicht um eine Zahl, sondern um ein System

Die Frage nach der Anzahl ist falsch gestellt. Es geht nicht um eine statistische Größe, sondern um ein System verantwortungsloser Restrukturierung.
Siemens, beraten und finanziert von Banken wie der Deutschen Bank, hat dutzende, wenn nicht hunderte von Unternehmensteilen, Tochterfirmen und Zulieferern in den Ruin getrieben oder bewusst geopfert. Die Methode war die systematische Auslagerung von Risiko und Verantwortung, während man die Gewinne abschöpfte.

Die Technologiebereiche waren davon besonders betroffen, weil sie hohe Investitionen benötigten (Halbleiter, Handys) oder als „nicht kern“ galten (Hausgeräte, Telefone). Diese „Kollateralschäden“ waren keine Betriebsunfälle, sondern geplante und kalkulierte Folge einer Strategie, die den Shareholder Value über alles stellte – über Arbeitsplätze, über technologische Traditionen und über die soziale Verantwortung eines Konzerns.