Siemens in den 90ern: Der radikale Umbau eines deutschen Riesen – und die unsichtbare Hand der Märkte

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Die 1990er- und frühen 2000er-Jahre waren für die deutsche Industrie eine Zeit des Erwachens. Die Globalisierung brachte neue, oft gnadenlose Konkurrenz, und Aktionäre forderten zunehmend Rendite. In dieser Ära vollzog Siemens, einer der größten und traditionsreichsten Industriekonzerne Deutschlands, eine der tiefgreifendsten Transformationen seiner Geschichte. Es war ein Umbau, der das Unternehmen retten, aber auch sein Gesicht für immer verändern sollte.

Hinter Begriffen wie „Restrukturierung“, „Fokussierung“ und „Shareholder Value“ verbargen sich drastische Maßnahmen: Der Verkauf ganzer Produktionssparten, die Auslagerung Tausender Arbeitsplätze und ein fundamentaler Wandel der Unternehmenskultur. Doch wer trieb diesen Wandel wirklich an? War es allein die weitsichtige Strategie der Konzernspitze? Oder spielten externe Kräfte – Banken, Berater und vielleicht sogar die oft als „Heuschrecken“ verschrienen Hedgefonds – eine entscheidende Rolle?

Die Ausgangslage: Ein Dinosaurier unter Druck

Siemens stand Ende der 1980er Jahre wie kaum ein anderes Unternehmen für den Erfolg des deutschen Modells: breit aufgestellt, stark ingenieursgetrieben, mit eigener Fertigungstiefe und einer loyalen Stammbelegschaft. Doch das wurde zunehmend zum Fluch. Der Konzern war schwerfällig, die Margen in vielen traditionellen Geschäftsfeldern schmolzen dahin. Der globale Wettbewerb, insbesondere aus Asien, und der steigende Kostendruck durch schwankende Rohstoffpreise (wie z.B. Kupfer) machten das alte Modell unprofitabel.

Der radikale Schnitt: Verkauf, Auslagerung, Zerschlagung

Unter Führung von CEOs wie Heinrich von Pierer begann eine beispiellose Neuausrichtung. Die Strategie war klar: Konzentration auf Kernkompetenzen und Abstoßung alles Belastenden.

  • Verkauf der „Kupfer-Seele“: Symbolträchtig war der Ausstieg aus der traditionellen Kupfer- und Basisindustrie. Steigende Weltmarktpreise für Kupfer und hohe deutsche Produktionskosten führten dazu, dass eigene Fertigungsanlagen stillgelegt oder ins Ausland verkauft wurden. Was einst ein strategisches Asset war, wurde nun zur Belastung für die Margen.
  • Ausgliederung von Zukunftstechnologien: Noch erstaunlicher waren die Schritte in vermeintlichen Zukunftsbereichen. Die Halbleitersparte wurde 1999 als Infineon verselbstständigt. Das Computergeschäft landete im Joint-Venture Fujitsu Siemens. Später folgte sogar der Verkauf der Handysparte Siemens Mobile an BenQ – ein Deal, der für viele Mitarbeiter katastrophal endete.
  • Immobilien und Personal outsourcen: Der Konzern trennte sich nicht nur von Produkten, sondern auch von seinem substanziellen Besitz. Betriebsimmobilien wurden in eigene Gesellschaften ausgelagert („Real Estate Management“), um Kapital freizusetzen. Noch gravierender war die Auslagerung von Personal. Tausende Beschäftigte wurden in rechtlich eigenständige Tochterfirmen überführt, oft mit schlechterer Bezahlung und unsichereren Zukunftsperspektiven. Viele dieser Firmen gerieten später in Schieflage, was Pensionsansprüche gefährdete, die einst bei Siemens als sicher galten.

Die treibenden Kräfte: Berater, Banken und der „Shareholder Value“

Dieser radikale Wandel geschah nicht im luftleeren Raum. Er wurde orchestriert und vorangetrieben von einer Armee externer Unternehmensberater (McKinsey, Roland Berger u.a.), deren Geschäftsmodell auf Restrukturierung und Effizienzsteigerung basierte. Ihre Analysen und Empfehlungen legitimierten die oft schmerzhaften Einschnitte.

Gleichzeitig übten die Kapitalmärkte und Großbanken enormen Druck aus. Die Ära des „Shareholder Value“ hatte Deutschland erreicht. Die Botschaft an die Konzernführung war klar: Die Rendite muss steigen, der Aktienkurs auch. Und der schnellste Weg dorthin führte über Kostensenkung, Schuldenabbau und die Fokussierung auf profitabloreiche Geschäfte – nicht über langfristiges, geduldiges Investieren.

Gab es Hedgefonds, die dazu führten?

Das ist die zentrale Frage. Bei der Analyse der Siemens-Transformation in den 1990ern und frühen 2000ern muss man festhalten: Nein, es gab keine prominenten aktivistischen Hedgefonds, die Siemens direkt angriffen und diese Veränderungen einforderten.

Die Ära der aktivistischen Investoren, die gezielt große deutsche DAX-Konzerne unter Druck setzten (wie später bei ThyssenKrupp oder Deutsche Bank), begann in dieser Form erst später. Der Wandel bei Siemens wurde von innen heraus initiiert, angetrieben von einem Management, das die Zeichen der Zeit erkannte und den Konzern fit für die Globalisierung machen wollte – oder musste.

Allerdings agierte die Siemens-Führung im Geiste und unter dem Diktat der Kapitalmärkte, die von Hedgefonds und anderen institutionellen Anlegern dominiert werden. Der Druck, die profitability zu steigern, war allgegenwärtig. In diesem Sinne waren die Hedgefonds und ihre Anlagestrategien Teil des Ökosystems, das den Wert eines Unternehmens fast ausschließlich an seiner Quartalsrendite maß. Sie waren die unsichtbare Hand am Markt, die das Handeln der Konzernlenker vorwegnahm und belohnte.

Fazit: Ein notwendiger Wandel mit sozialen Kosten

Der Umbau von Siemens war zweifellos wirtschaftlich notwendig. Er hat den Konzern vor der Bedeutungslosigkeit bewahrt und die Grundlage für die heutige, schlankere und profitablere Siemens AG gelegt, die sich auf digitale Industrie, Infrastruktur und Mobilität konzentriert.

Doch der Preis war hoch. Die sozialen Verwerfungen, der Verlust von Know-how durch verkaufte Sparten, die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und die gefährdeten Pensionsansprüche in ausgegliederten Firmen sind das Erbe dieser Ära. Es war eine Abkehr vom traditionellen deutschen Stakeholder-Kapitalismus, der Mitarbeiter und Standorte mit einbezog, hin zu einem angelsächsisch geprägten Shareholder-Modell.

Auch wenn keine Hedgefonds direkt die Zerschlagung forderten, so vollzog Siemens dennoch eine Transformation, wie sie typisch für deren Agenda ist: Fokussierung, Margensteigerung und Kapitalfreisetzung um fast jeden Preis. Die Geschichte von Siemens in den 90ern ist somit ein Lehrstück darüber, wie der globale Kapitalismus einen nationalen Champion umformt – oft lange bevor die Öffentlichkeit die eigentlichen Akteure überhaupt wahrnimmt.