Wirecard: Der deutsche Albtraum – Ein System aus Versagen, Arroganz und undurchsichtigen Netzwerken

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Willkommen auf WirtschaftsTiefenbohrung. Heute blicken wir auf einen der größten Wirtschaftsskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte: den Fall Wirecard. Er ist mehr als nur die Geschichte eines betrügerischen Unternehmens. Es ist eine Blaupause dafür, wie Aufsichtsbehörden versagten, wie Banken mitspielten, wie Berater verdienten und wie ein ganzes System es zuließ, dass ein Kartenhaus bis in den DAX aufstieg, bevor es sich in Staub auflöste.

Der Aufstieg: Vom Nischenanbieter zum Tech-Liebling

Wirecards Aufstieg war atemberaubend. Aus einem kleinen Unternehmen für Zahlungsabwicklung wurde im Sog des Dotcom-Booms ein gefeierter Tech-Darling. 2018 erreichte der Höhenflug seinen Gipfel: Wirecard verdrängte die traditionsreiche Commerzbank aus dem DAX und war kurzzeitig mehr wert als die Deutsche Bank. Die Botschaft war klar: Das Alte, Träge musste dem Neuen, Schnellen weichen. Doch dieser Erfolg war von Anfang an auf tönernen Füßen gebaut.

Die Zweifler: Journalisten und Shortseller als unbequeme Wahrheitssager

Während deutsche Analysten und Investoren noch jubelten, meldeten sich schon früh kritische Stimmen. Investigativjournalisten der Financial Times, angeführt von Dan McCrum, sowie eine Handvoll skeptischer Hedgefonds (die sogenannten Shortseller) begannen, hinter die Fassade zu blicken. Was sie fanden, waren Hinweise auf undurchsichtige Geschäfte in Übersee, nicht existierende Partnerfirmen und gefälschte Bilanzen.

Ihnen wurde nicht geglaubt. Stattdessen wurden sie als neidische Saboteure diffamiert. Wirecard ging in die Offensive – nicht mit Fakten, sondern mit Anwälten, Drohungen und einer beispiellosen Lobbymaschinerie. Banken wie die Deutsche Bank und die Allianz-Tochter DWS sollen sogar versucht haben, den Kurs zu stützen und gegen die Shortseller vorzugehen. Man stellte sich schützend vor den DAX-Champion – und schützte so in Wirklichkeit ein betrügerisches Konstrukt.

Die Mitspieler: Ein ganzes Ökosystem des Wegsehens

Der Wirecard-Skandal ist deshalb so monumental, weil so viele versagt haben:

  • Wirtschaftsprüfer EY: Der Prüfer EY segnete jahrelang die gefälschten Bilanzen ab. Warnsignale wurden ignoriert. Die berüchtigte KPMG-Sonderprüfung 2020, die den Betrug nicht vollständig aufdecken konnte, war der letzte Sargnagel für die Glaubwürdigkeit der Branche. Es war ein kollektives Versagen der Finanzkontrolle.
  • Aufsichtsbehörden (BaFin): Anstatt die Hinweise auf Betrug ernsthaft zu prüfen, ergriff die deutsche Finanzaufsicht BaFin eine unvorstellbare Maßnahme: Sie verbot zeitweise Leerverkäufe auf die Wirecard-Aktie und ermittelte vorübergehend gegen die Journalisten der FT. Sie kämpfte gegen diejenigen, die den Betrug aufdecken wollten, anstatt gegen den Betrug selbst.
  • Politik & Lobbyismus: Wirecard umgab sich mit einem Netzwerk aus einflussreichen Beratern. Eine Schlüsselfigur: Klaus-Dieter Fritsche, Ex-Staatssekretär im Kanzleramt und ehemaliger Geheimdienstkoordinator. Solche Figuren öffneten Türen in Ministerien und schützten das Unternehmen vor allzu neugierigen Blicken. Die Grenze zwischen Lobbyarbeit und Einflussnahme verschwamm.

Die deutsche Dreistigkeit: Der Plan zur Übernahme der Deutschen Bank

In der Endphase des Betrugs erreichte die Arroganz der Wirecard-Führung surreale Ausmaße. Es gab tatsächlich konkrete Pläne und Gutachten (u.a. von McKinsey), die eine Übernahme der Deutschen Bank durch Wirecard vorsahen. Der Plan: Man würde sich mit dem milliardenschweren Kauf einer maroden Bank die nötige Substanz und Legitimität verschaffen, um die eigenen Bilanzlöcher zu kaschieren. Dieses Vorhaben zeigt die absolute Realitätsverweigerung, die in München herrschte – und die Bereitschaft des gesamten Umfelds, auch die absurdesten Pläne ernsthaft zu prüfen.

Und Siemens? Der stille DAX-Nachbar

War Siemens direkt involviert? Nein. Aber der Konzern steht symbolisch für ein deutsches Umfeld, in dem Skandale nicht zur echten Läuterung führen. Siemens selbst durchlitt in den 2000er Jahren einen massiven Korruptionsskandal. Beide Unternehmen, Siemens und Wirecard, wurden von den gleichen Prüfgesellschaften (EY, PwC) begutachtet und bewegten sich in den gleichen Netzwerken der Macht. Wirecard ist kein Einzelfall, sondern die extremste Ausprägung eines Systems, in dem Kontrolle oft nur Kosmetik ist.

Das Ende: Der Kollaps und die Lehren, die keine sind

Im Juni 2020 war das Spiel vorbei. 1,9 Milliarden Euro waren lautlos in Luft aufgegangen. Der Vorstandschef Markus Braun wurde verhaftet, sein Kompagnon Jan Marsalek tauchte unter. Tausende Mitarbeiter verloren ihre Jobs.

Die Aufarbeitung in Untersuchungsausschüssen brachte Schreckliches ans Licht, doch die Konsequenzen waren gering. Einige Gesetze wurden angepasst, die BaFin reformiert. Doch die eigentlichen Fragen bleiben: Wie kann ein derartiger Betrug im Herzen der deutschen Wirtschaft passieren? Warum haben so viele weggesehen? Die Antwort liegt im Zusammenspiel von Gier, blinder Technologie-Euphorie, sträflicher Naivität der Aufseher und einem undurchsichtigen Netzwerk aus Beratern und Lobbyisten, das Kritik erstickt.

Wirecard ist kein abgeschlossenes Kapitel. Es ist eine Warnung. Eine Warnung davor, was passiert, wenn Narrative wichtiger werden als Zahlen und wenn Einfluss wichtiger wird als Integrität.

Die Aufarbeitung geht weiter. Haben Sie eigene Erfahrungen oder Einschätzungen zu den undurchsichtigen Verbindungen im deutschen Wirtschaftsestablishment? Diskutieren Sie mit – anonymisiert.