Vom Stahlriesen zum Designer-Label: Wie die deutsche Autoindustrie sich selbst zerlegte

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Die Geschichte von Siemens in den 90ern ist kein Einzelfall. Es ist die Blaupause für einen fundamentalen Wandel des deutschen Kapitalismus. Und nirgends wurde dieses Spielbuch perfekter angewandt als in der vermeintlichen Krönung der deutschen Ingenieurskunst: der Automobilindustrie.

Was bei Siemens die Kupferkabel und Krankenpfleger waren, waren bei VW, Daimler, BMW & Co. die Zulieferwerke, die Gießereien und der Werkstatt-Service. Der gleiche Druck der Kapitalmärkte, die gleichen Berater von McKinsey & Co. und die gleiche erbarmungslose Logik des Shareholder Value führten zu einer stillen Revolution, die das Gesicht der deutschen Industrie für immer veränderte.

Das Spielbuch: Vom Hersteller zum „Brand Manager“

Die Automobilkonzerne vollzogen einen strategischen Shift, der in der Bilanz wunderbar aussah, aber sozial verheerend war: Sie wandelten sich vom integrierten Hersteller mit hoher Fertigungstiefe zum Designer und Assemblierer von Marken. Die wahre Wertschöpfung – die harte, kapitalintensive und personalreiche Produktion von Einzelteilen – wurde systematisch ausgelagert.

1. Die Zerschlagung der Zuliefer-Imperien (Das „Siemens-Infineon“-Modell)

Jeder große Autobauer hatte seine eigenen internen Zulieferer: VW seine Komponentenwerke, Daimler seine Achsenfertigung, Opel seine Motorenwerke. Diese wurden nach und nach ausgegliedert, verselbstständigt und oft verkauft.

  • Beispiel VW: Der Konzern gliederte große Teile seiner Komponentenproduktion (Sitze, Lenksäulen, Achsen) aus. Diese Einheiten wurden zu eigenständigen Profit-Centern, die plötzlich nicht nur für VW, sondern auch für die Konkurrenz produzieren und sich am Markt behaupten mussten. Viele überlebten diesen Schock nicht oder wurden an internationale Zuliefererriesen wie Continentaloder Bosch verkauft, was oft mit Stellenabbau einherging.
  • Beispiel Opel unter GM: Opel war ein Lehrstück des „Ausblutens“. Werk um Werk wurde geschlossen (Bochum 2014 ist das traurige Symbol), ganze Entwicklungsabteilungen wurden abgebaut oder nach Osteuropa verlagert. GM behandelte Opel als Kostenstelle, die es zu optimieren galt, nicht als Technologiezentrum. Die ausgegliederten Teile hatten keine Chance.

2. Die Auslagerung der Belegschaft (Das „Greenfield“-Modell)

Warum teure Stammbelegschaft beschäftigen, wenn man Dienstleister gründen kann? Nach dem Vorbild von Siemens‘ Greenfield wurden tausende Angestellte aus der Kern-GmbH in Dienstleistungstöchter verschoben.

  • IT, Logistik, Entwicklung: BMW gründete eigene IT-Dienstleister, VW die CarIT, Daimler lagerte Logistik aus. Die Mitarbeiter machten oft die gleiche Arbeit, aber zu schlechteren Tarifbedingungen, mit weniger Job-Sicherheit und geringeren Aufstiegschancen. Diese Firmen waren die ersten, die in Krisen bluteten.
  • Werkstätten und Service: Auch der Kunden-Service wurde oft an externe Partner vergeben, was die Qualität und die Bindung der Marke beschädigte, aber die Bilanz verschönerte.

3. Der Verkauf der Substanz (Das „Immobilien“-Modell)

Wie Siemens verkauften auch die Autobauer ihre Werksimmobilien. Fabriken, die einst stolzer Besitz waren, wurden an Finanzinvestoren verkauft und zurückgemietet. Das spülte kurzfristig Milliarden in die Kasse, machte die Konzerne aber zu Mietern auf ihrem eigenen Grund und Boden und langfristig abhängig von Mietzahlungen.

Die treibenden Kräfte: Berater, Banken und der Geist der Zeit

Die Architekten dieser Transformation saßen nicht in Wolfsburg oder Stuttgart, sondern in den Büros von McKinsey, Bain und Roland Berger. Ihre PowerPoint-Folien rechtfertigten jeden Abbau, jede Auslagerung mit den heiligen Worten „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Fokussierung auf Kernkompetenzen“.

Die Großbanken, allen voran die Deutsche Bank, spielten auch hier ihre Rolle als Gebührenverdiener. Sie berieten bei Verkäufen, strukturierten die Deals und feuerten den Kurs der Aktie an, den diese Maßnahmen boosten sollten.

Hedgefonds spielten eine andere, aber ebenso zerstörerische Rolle. Während der spektakulären Übernahmeschlacht zwischen Porsche und VW in den 2000ern attackierten sie VW-Aktien und verstärkten die Volatilität, um kurzfristig Milliarden zu verdienen. Ihr Interesse galt nicht dem langfristigen Wohl des Unternehmens, sondern der schnellen Spekulation.

Das Fazit: Ein ökonomischer Sieg, ein sozialer Bankrott

Die Restrukturierung der deutschen Autoindustrie war ökonomisch betrachtet ein Erfolg. Die Konzerne wurden profitabler, die Aktienkurse stiegen, und sie überlebten die Globalisierung.

Doch der Preis war immens:

  • Prekarisierung der Arbeit: Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstand innerhalb der Konzerne: die gut bezahlte Stammbelegschaft und die prekär beschäftigten Mitarbeiter in ausgegliederten Dienstleistern.
  • Verlust von Know-how: Durch das Auslagern und Schließen von Zulieferwerken ging wertvolles Produktions-Know-how verloren.
  • Soziale Verwüstung: Städte wie Bochum (Opel) oder ganze Regionen erlitten durch Werksschließungen einen massiven wirtschaftlichen Einbruch.

Die deutsche Autoindustrie überlebte, indem sie sich selbst dekonstruierte. Sie ist heute nicht mehr der stolze, integrierte Stahlriese, sondern ein marketingstarker Designer, der Teile aus aller Welt zusammensteckt. Die Blaupause dafür lieferte nicht die Konkurrenz in Japan oder den USA, sondern der vermeintlich so andere deutsche Industrieriese: Siemens. Es ist das gleiche Spielbuch, nur mit anderen Akteuren – und mit dem gleichen verheerenden Ergebnis für die industrielle Solidarität.